Die lange Warteliste ist schädlich
Haben Sie ein offenes Ohr für junge Menschen. Dr. Joachim Walter, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, kennt die Nöte seiner jungen Patient:innen. Eine Sache bereitet ihm nach Corona besonders Sorge.
Welche Probleme treten auf Ihrer Station aufgrund der Pandemie vermehrt auf?
Ess- und Angststörungen und schwere Depressionen sind definitiv mehr geworden. Eine eher kurzfristige Auswirkung von Corona war die Angst, die Großeltern anzustecken, und dass diese dann sterben könnten. Zudem sind Entwicklungsdefizite aufgetaucht, die durch den Mangel an altersentsprechenden Reizen entstanden sind, wie mit anderen Jugendlichen auf Partys zu gehen. Geschlechtsidentitätsverwirrung kommen in den letzten Jahren auch häufiger vor, ist aber vermutlich eher ein kulturelles als ein pandemiebedingtes Phänomen.
Inwieweit sind diese psychischen Erkrankungen auf Corona zurückzuführen?
Wichtig ist, dass niemand allein aufgrund der Corona-Pandemie bei uns ist. Eine psychische Erkrankung entsteht immer aus der Summe von mehreren Risikofaktoren. Wir wissen z. B. nicht, ob Essstörungen wegen Corona nun häufiger auftreten oder ob dies Ergebnis vermehrter Selbstbeobachtung in der Isolation, familiärer Enge oder öffentlicher Ideale im Netz ist. Die Pandemie ist hier lediglich ein zusätzlicher Faktor. Dort, wo schon Belastungen im Vorfeld bestanden, kam Corona noch dazu. Und daraus entwickelten sich dann vermehrt psychische Störungen. Spannend zu sehen ist, dass es Mädchen vielmehr getroffen hat als Jungs. In der Jugendzeit sind Mädchen sensibler und verletzlicher. Sie neigen mehr zur Selbstkritik und leiden mehr unter sozialer Isolation.
Mit welchen langfristigen Folgen kämpfen Ihre jungen Patient:innen?
Das ist nicht so leicht zu beantworten, da die unterschiedlichen Krankheiten natürlich unterschiedlich lange wirken. Besonders dann, wenn wir es mit Ängsten und Rückzug zu tun haben, ist die verlorene Zeit sehr schwer aufzuholen. Dazu kommen die langen Wartelisten sowohl für stationäre als auch für ambulante Behandlungen und Therapien. Je länger eine Störung besteht, umso mehr neigt sie dazu, sich in der Zukunft festzusetzen. Es bereitet mir Sorge, dass die Kinder und Jugendlichen zu lange warten müssen.
Wie lang ist die Wartezeit im Wilhelmstift?
Viel zu lang. Im Moment sind wir bei Wartezeiten von sechs bis acht Monaten, manchmal auch bis zu einem Jahr. Wahrscheinlich wird es bei uns zwei Jahre dauern, bis sich das einigermaßen normalisiert hat.
Wie gehen Sie mit dem Andrang um?
Personen, die eine Stabilisierung benötigen oder Akut-Fälle wie bei einer Selbstmordgefährdung nehmen wir natürlich dennoch sofort oder bald auf. Das große Ziel ist, in allen stationären und teilstationären Kinderpsychiatrien wieder für reguläre Behandlungen auf Wartezeiten von ca. zwei Monaten zu kommen, weil wir wissen, wie schädlich zu langes Warten ist. Doch psychische und soziale Veränderung braucht in der Regel einfach Zeit und man kann Patient:innen wegen der Warteliste nicht verfrüht entlassen.
Was haben Sie persönlich von der Corona-Pandemie mitgenommen?
Gesellschaftlich hat man sehr auf die ökonomischen und auf die schweren gesundheitlichen Probleme geachtet. Weniger auf die Nebenwirkungen der Pandemie oder auf Beziehungen und das Befinden. Bis wir Kinderpsychiater: innen und -ärzt:innen miteinbezogen wurden, dauerte es ein Jahr, das hätte ich mir anders gewünscht.
Können Sie der Corona-Pandemie auch etwas Positives abgewinnen?
Die Möglichkeit des Videocalls ist eine gute Sache. So können wir nun nicht nur mit den Jugendlichen zu Hause, sondern auch mit abwesenden oder im Ausland lebenden Elternteilen reden. Der Austausch mit dem Jugendamt und den Schulen ist durch die Digitalisierung leichter geworden und erspart uns jetzt viel Fahrerei.
Wie erkennen Eltern, dass ihr Kind psychiatrische Hilfe benötigt? Auf welche Anzeichen sollten sie besonders achten?
Dort, wo Kinder sehr aggressiv sind oder sie völlig durcheinanderreden. Aber auch, wenn sich sehr zurückziehen und nicht mehr über Gefühle oder Beziehungen reden. Der Verlust von Freude oder von Motivation ist auch ein Warnzeichen sowie Schlafschwierigkeiten oder schulisches Absinken. Viel schwieriger ist es aber bei Kindern, die sehr zurückgezogen sind, die fallen in der Schule oder im Elternhaus nicht so auf. Unbedingt achten sollten Eltern vor allem auf die zentralen Punkte: Suizid-Gedanken oder Depressionen.
Klick mal rein!
Die hauseigene Broschüre „Ich, Einfach Besonders“ informiert junge Patient:innen über das Angebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wilhelmstift. Therapien und Probleme werden hier kindgerecht erklärt: www.kkh-wilhelmstift.de/kinderundjugendpsychiatrie
Nummer gegen Kummer
Tel. 116 111
Das Kinder- und Jugendtelefon bietet eine telefonische Beratung. Montags bis samstags von 14 Uhr bis 20 Uhr. Anonym und kostenlos in ganz Deutschland.
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